Kettcar – Gute Laune ungerecht verteilt
Als Kettcar im Herbst 2017 „Ich vs. Wir“ veröffentlichten, war die Welt eine ganz andere. Seither wurde das gesellschaftliche und politische Klima um Welten hässlicher und unwirtlicher, letztlich nur die Spitze eines stetig schmelzenden Eisbergs. Etwas Hoffnung wäre jetzt sicher nicht verkehrt, wobei das nun mehr sechste Album der Hamburger gerne mal hinterfragt, wie viel Platz heute noch dafür bleibt. Der Blick auf „Gute Laune ungerecht verteilt“ geht nach innen und nach außen, überrascht mit den vielleicht härtesten Momenten im Schaffen des Quintetts und schafft es abermals, schwierige und unbequeme Dinge präzise und doch gewitzt beim Namen zu nennen.
Das gilt beispielsweise für die erste Single „München“ mit Chris Hell von Fjørt, die mit ihrer wütenden Heavyness durchaus Erinnerungen an die Vorgängerband …But Alive weckt. Die Auseinandersetzung mit Alltagsrassismus erfolgt durch eine einfühlsame und mitfühlende Erzählung, die auf allen Ebenen einfach nicht kalt lassen kann. Wie das mit Cancel Culture und der Trennung von Autor und Werk wirklich ist, versucht „Kanye in Bayreuth“ zu erläutern. Kann man die Kunst von schlechten oder zumindest umstrittenen Menschen genießen? Es gibt keine klare Antwort, doch der sperrige, recht rhythmusbetonte Track brennt sich binnen Sekunden ein.
Kuriose Titel und ein Schwall an fesselnden Worten – das darf auf dieser Platte ebenfalls nicht fehlen. „Wir betraten die Enterprise mit falschen Erwartungen“ ringt um Fassung und lässt die Deutung bewusst offen, begleitet von einem herrlich hymnischen Chorus, während „Auch für mich 6. Stunde“ eine starke Bestandsaufnahme im Kettcar-Mikrokosmos zwischen Erwartung, Veränderung und Hoffnung auf neue Ufer inmitten gesellschaftlicher und politischer Uferlosigkeit darstellt. Das prächtige, bewusst rührselig angehauchte „Einkaufen in Zeiten des Krieges“ mit seiner kleinen Fanfare bemüht Zwischenmenschliches im Supermarkt, dann widmet sich das fluffige, verspielte „Doug & Florence“ der utopischen Herrschaft der vermeintlichen kleinen Leute und Berufe. Und erst der aufwühlende Rausschmeißer, dieser Brief vom jungen eigenen Ich …
Kettcar waren immer schon groß, immer schon wichtig, doch ist ihre sechste Platte sogar noch mehr, irgendwie. Worte sind präsent und wehren sich doch, denn wiewohl es den Hamburgern gelingt, abwechselnd direkt und gekonnt ausschweifend Konkretes zu benennen, so fällt es doch schwer, die besondere Magie von „Gute Laune ungerecht verteilt“ in aller gebotenen Präzision auf den Punkt zu bringen. Hier sprechen fünf Menschen aus der Seele, wirken selbst in verständlicher Schwere so leicht und schreiben noch dazu richtig gute Songs. Das sollte auf keinen Fall unter den Tisch fallen: Insgesamt mehr Rock und Druck, feinsinnige Melodien und kleine Überraschungen runden dieses starke Gesamtpaket ab. Tatsächlich könnte dies das bislang beste Werk der Nordlichter sein, was angesichts ihres bisherigen Schaffens wohl alles sagt. Wie gut, dass die Oper noch lange nicht ausgesungen ist.
Wertung: 4,5/5
Erhältlich ab: 05.04.2024
Erhältlich über: Grand Hotel van Cleef (Indigo)
Website: kettcar.net
Facebook: www.facebook.com/kettcar