Sigur Rós – ÁTTA

Sigur Rós
(c) Tim Dunk

Ein komplettes Jahrzehnt ohne neues Album, das ist dann doch eine etwas sehr lange Durststrecke. Abgesehen von einzelnen Songs sowie verschiedenen Spezial-Releases hielten sich Sigur Rós zuletzt im Hintergrund auf, was nicht zuletzt an personellen wie auch rechtlichen Problemen lag. Umgeben von einer Welt, die sich vermehrt selbst zerstört, suchte man nach Möglichkeiten, die eigentlich von Schönheit geprägte Musik in einem alles andere als schönen Umfeld zu platzieren. „ÁTTA“ tauchte letztlich recht überraschend auf, unter anderem in den legendären Abbey Road Studios sowie mit Orchester und Blechbläsern aufgenommen, und kleidet Nihilismus sowie Ohnmacht in zumindest auf den ersten Blick zauberhafte Töne.

Auf Schlagzeug und Gitarre verzichten die Isländer fast durchgehend. Dezenter Percussion-Einsatz und gelegentliche akustische Einschübe begleiten das Geschehen, doch liegt der Fokus dieses Mal auf einem betont minimalistischen Klangteppich, der zur anstehenden Orchester-Tour passt. Bereits das vorweg präsentierte „Blóðberg“ widmete sich entsprechenden Gefilden. Jónsis butterweicher Gesang und die zart aufbrandenden Streicher erinnern eher an seine „Riceboy Sleeps“-Platte, klingen dennoch unverkennbar nach Sigur Rós, was angesichts der Vocals natürlich unvermeidbar ist. Doch ist es auch die Stimmung, dieser Rückgriff auf „( )“, bloß mit ganz anderer Instrumentierung, der fasziniert und einnimmt. Selbst das zarte, aber bestimmte Anschwellen wirkt freundlich und steht damit im krassen Kontrast zu den drastischen Bildern des begleitenden Videos.

Das abschließende „8“, der Quasi-Titeltrack („Átta“ ist das isländische Wort für „Acht“), perfektioniert das Spiel mit Schleifen und Stimmungen – eine Hälfte selbst in absoluter Reduktion berauschend und beflügelnd, die zweite Hälfte von Zäsuren und Pausen aus der klassischen Musik geprägt. „Andrá“ nimmt Melodien und Gesangspassagen mit, die auch auf früheren Alben funktioniert hätten, klammert dafür die restliche Instrumentierung aus und ersetzt sie durch Streicher – mutig, dafür wunderschön. Im direkten Anschluss serviert „Gold“ einen von gerade mal zwei lauteren Momenten mit Schlagzeug, mit etwas Gitarre, der dennoch schnell versiegt. Der andere ist „Klettur“, das am ehesten an die rohe Energie von „Kveikur“ erinnert und diese weiterdenkt – Sigur Rós in Reinkultur, fieberhaft und alles überstrahlend.

Das Hinarbeiten auf große emotionale Eruptionen in vertrauter Post-Rock-Manier fällt weg, auch der ruppige, nahezu industrielle Entwurf des Vorgängers hat ausgedient. Über weite Strecken scheinen sich Sigur Rós auf ihr Frühwerk zu besinnen, fernab von Pop und Noise, ziehen jedoch nahezu die komplette instrumentale Umsetzung anders auf. „ÁTTA“ verzichtet auf Höhepunkte und strebt stattdessen nach den erhabenen Momenten in der Stille. Wenn es dann – selten, aber doch – laut und fieberhaft wird, ist alles eitel. Hätte es mehrere solcher Exkurse gebraucht? Nicht unbedingt, wenngleich das neueste Werk der Isländer doch etwas braucht, um in seiner Ambient- bis Art-Form zu erstrahlen. Und doch zeigen sich Sigur Rós abermals in fantastischer Form, weil das Verschieben sämtlicher musikalischer Vorzeichen letztlich gar fantastisch gelingt – ein weiteres Meisterstück jenseits von Raum und Zeit.

Wertung: 4,5/5

Erhältlich ab: 16.06.2023 (digital) / 01.09.2023 (physisch)
Erhältlich über: Von Dur Limited / BMG Rights Management (Warner Music)

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