Protomartyr – Formal Growth In The Desert

Protomartyr
(c) Trevor Naud

Der Versuch, Positives aus dem Rückschlag zu ziehen, klingt fürs Erste nicht unbedingt nach einem typischen Protomartyr-Rezept. Vieles im Leben von Frontmann Joe Casey änderte sich zuletzt. Seine Mutter, die eineinhalb Jahrzehnte an Alzheimer litt, verstarb, zudem verließ er nach einer Serie von Einbrüchen das Familienzuhause, in dem er sein ganzes Leben gelebt hatte. Und doch versuchte Casey, mit der Weisheit des Alters ausgestattet, ausnahmsweise die (etwas) schöneren Dinge des Lebens zu betonen, bloß nicht traurig und depressiv sein. All diese Erlebnisse und Emotionen treffen auf den gewohnt noisigen Post-Rock-Sound seiner Band und führen zu „Formal Growth In The Desert“, einer nunmehr etatmäßig vielschichtigen Platte.

„Elimination Dances“ überrascht ein wenig mit der anfänglichen Synthetik, welche scharfe Kanten abzurunden scheint. Hat man es urplötzlich mit einer Wave-Band zu tun? Vocals und Basslauf setzen ein, plötzlich ist wieder alles eitel. Ominöse Bedrohlichkeit in Ton trifft auf ähnlich drastische Lyrics, welche Tanzwettbewerbe aus den 50ern, in denen Teilnehmer durch Abklopfen eliminiert wurden, auf das Leben und Überleben an sich ummünzen. In „Graft Vs. Host“, das Casey kurz nach dem Ableben der Mutter schrieb, betreibt er aktive Trauerarbeit und erkennt, dass es einen Weg nach vorne geben muss. Zwischen erstaunlicher musikalischer Heavyness und nicht minder eindrücklich liebevollen Lyrics geht das Herz auf.

Liebe im Zeitalter einer Gig-Worker-Wirtschaft erkundet „Fulfillment Center“, mit dem Protomartyr eines ihrer Leitmotive – das Leben des Arbeiters in der modernen Gesellschaft und Industrie – aufgreifen. Was hier wie ein kurzer, lauter Stream of Consciousness präsentiert wird, stolpert und verliert sich im weitläufigen „Let’s Tip The Creator“, das den Umgang mit modernen Technologien mit bleierner Schwere kollidieren lässt. Ähnlich schwer und faszinierend dramatisch gibt sich „Rain Garden“, der epische Rausschmeißer mit cineastischen Dimensionen. Film-Soundtracks faszinieren Gitarrist Greg Ahee seit geraumer Zeit, hier kann er sich austoben, ohne dabei auch nur einen Hauch des Bandsounds einzubüßen.

Dieses dezente und doch gekonnte Spiel mit dem eigenen Sound und den damit verbundenen Erwartungen wird für Protomartyr zum vollen Erfolg. Sie erfinden das musikalische Rad nicht etwa neu, sie denken es bloß weiter und ringen dem ohnehin vielschichtigen bis unvorhersehbaren Post-Punk-Sound aufregende frische Ideen ab. Das Spiel mit Liebe und Trauer, das Setzen auf den feinsten Schimmer Hoffnung, das Hinarbeiten auf Erlösung und die zugleich etatmäßige, undurchdringliche Ernüchterung des Seins zeichnen schemenhafte Bilder eines Lebens mit all seinen Aufs und Abs, hoffnungsvoll und zugleich von steten Schatten zart umgarnt. „Formal Growth In The Desert“ ist ein ausdifferenziertes Meisterstück geworden, das Protomartyr endgültig in die Post-Punk-Königsklasse hievt.

Wertung: 4,5/5

Erhältlich ab: 02.06.2023
Erhältlich über: Domino Records (GoodToGo)

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