Laura Jane Grace – Stay Alive
Viel Zeit zum Schreiben, wenig Möglichkeit für tatsächlichen Ertrag: Die Corona-Pandemie traf natürlich auch die Musikwelt heftig. Laura Jane Grace wollte nach einer Tour im März mit Against Me! ins Studio gehen, um Songs aufzunehmen, an denen sie zwei Jahre gearbeitet hatte. Und plötzlich ging nichts mehr. Nach anderthalb Monaten konnte sie sich aus der Schockstarre befreien und stellte fest, dass diese Tracks unbedingt aufgenommen werden mussten. So landete „Stay Alive“ vor wenigen Tagen als Überraschungsalbum ohne große Vorankündigung und stellt zugleich wohl Graces erstes echtes Solowerk dar, obwohl sie sich selbst nicht ganz so sicher ist. Nur eines betont sie augenzwinkernd: Es ist KEIN Akustik-Album.
Besagte Songs, so viel war ihr klar, würden die Quarantäne nicht überstehen, mussten dennoch – mit leicht veränderter, an das Hier und Jetzt angepasster Perspektive – das Licht der Welt erblicken. An nur zwei Tagen nahm Grace 14 Songs in Steve Albinis Studio auf, natürlich unter strengen Social-Distancing-Regeln und mit Maske (abgesehen von den Gesangsaufnahmen), weitere zwei Tage später war das Ding abgemischt. Von einem Schnellschuss kann man dennoch nicht sprechen. Viel mehr gibt es herrliche Querverweise auf das frühere Schaffen, darunter „Blood & Thunder“. Das ist nicht etwa ein Mastodon-Cover, sondern das Relativieren der Chicago-Hass-Hymne vom Devouring Mothers-Album. Die Stadt hat doch ihre schöne Seiten, zumindest im Kleinen. Man muss nur genau hinhören. Das minimalistische, aufs Wesentliche reduzierte Soundgewand passt natürlich wunderbar.
Für Grace war dieses Album zudem wichtig, um einfach zu überleben. Der „Mountain Song“ setzt sich im Country-Twang mit Isolation und verbrannten Brücken auseinander, bekennt aber letztlich, dass man trotz aller Widrigkeiten überlebt hat. „Supernatural Possession“ – einer von mehreren Tracks mit E-Gitarre und leichter, stampfender Percussion – versucht sich in eine Zeit ineinander verschwimmender Tage und Wochen zurückzufinden, während der potenzielle Breakup-Song „So Long, Farewell, Auf Wiedersehen, Fuck Off“ mit seinem schroffen, punkigen Drive etwas an die ersten Against Me!-Alben erinnert. Natürlich darf der scharfe Kommentar zum amerikanischen Zeitgeist nicht fehlen. In „Hanging Tree“ dringt dieser besonders deutlich durch, blumig und schonungslos. Wem diese Abhandlung über Religion und White Supremacy gewidmet sein könnte – duh!
„Stay Alive“ ist ein Mission Statement in schwierigen Zeiten und zeugt von einer Künstlerin, die durchhält, die sich aus dem Sumpf herauszieht und weitermacht. Einige dieser Songs könnte man sich tatsächlich gut im Against Me!-Sound vorstellen, andere scheinen davon weit entfernt und passend eher zu den Devouring Mothers. Was das für die nächste Platte des Punk-Quartetts heißt – keine Ahnung. Songs hat Laura Jane Grace sicherlich genug in der Hinterhand. „Stay Alive“ ist viel mehr als nur eine Überbrückung der Wartezeit, es ist eine Sammlung richtig guter Tracks mit viel Leidenschaft und wichtiger Kampfansage für schwere Zeiten. Wer diese Kampfansage lieber in den Händen halten möchte: Die physische Version landet am 11. Dezember.
Wertung: 4/5
Erhältlich ab: 01.10.2020
Erhältlich über: Big Scary Monsters (The Orchard)
Laura Jane Grace @ Twitter | @ Instagram
„Stay Alive“ @ Amazon kaufen