Moses Sumney – græ
Moses Sumney macht Musik, die sich Beschreibungen und Klassifizierungen entzieht, so kunstvoll und mystisch erscheint sie. Nun holt der junge Kalifornier gleich zum Doppelschlag aus. Auf „græ“ erzeugt Sumney eine Art grauen Zwischenraum zwischen zwei hochgradig abwechslungsreichen und vielschichtigen musikalischen Kapiteln – der erste Teil erschien bereits im Februar – welche das komplette Spektrum der Grautöne untersuchen. Verschiebung und Zwischenräume, Farbe und marginale Identität schwingen sich zu zentralen Handlungssträngen auf.
Sumney entschied sich bewusst dagegen, eine Sammlung von Singles oder Hits aufzunehmen. Die einzelnen Songs, teils auch nur Fragmente, funktionieren am besten in ihrer Gesamtheit, sind Momentaufnahmen und episodische Erzählungen unterschiedlichster Art. Entsprechend vielschichtig gestaltet sich der Sound an sich. Das aufbrausende, verspielte „Virile“ zählt zu den Highlights des Longplayers – laut und schroff, stets brodelnd und nervös, energisch und beseelt. Der plötzliche Wechsel ins Falsett kommt gut. So wuchtig und pulsierend wird es sonst nicht mehr, stattdessen setzt es Gefühl und Vorsicht. Wie sich „Colouour“ über Soul und Jazz – einem tiefenentspannten King Krule gleich – in sein smoothes Arrangement vorarbeitet, unterhält.
Insgesamt gestaltet sich der zweite, bislang unveröffentlichte Teil von „græ“ eine Spur gemächlicher, vorsichtiger. „Me In 20 Years“ dringt in höchste Chamber- und Baroque-Pop-Höhen vor, Erinnerungen an Bon Iver kommen nicht von ungefähr. Die zunächst federnde, später mit Gospel und Electro flirtende Intensität von „Bless Me“ reißt hingegen von den Sitzen. Sumney entlockt seiner Stimme immer neue Höhen, steigert sich in den Song hinein und hebt zum großen Finale komplett ab – ein krasser Gegensatz zum bisherigen Abschluss „Polly“, ein Flirt mit semi-akustischer Fragilität.
„græ“ befindet sich in konstantem Fluss, selbst in den ruhigen, unscheinbaren Momenten. 65 lebendige, brodelnde Minuten sehen einen Moses Sumney, der neue Songwriting-Qualitäten erreicht, und dabei gar Unmenschliches aus seinen Stimmbändern herausholt. Vom angedeuteten Soul bis zum glaszerstörenden Gefühl schwingt hier alles mit. Und die Musikalität erst! Nackte Emotionalität, großes Chamber-Spiel, Elektronik und Kunstfertigkeit holen alles aus dem Medium Album heraus. Spätestens jetzt mischt Moses Sumney im Konzert der Großen mit.
Wertung: 4/5
Erhältlich ab: 15.05.2020
Erhältlich über: Jagjaguwar (Cargo Records)
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