Austra – HiRUDiN
Katie Stelmanis, besser bekannt unter ihrem zweiten Vornamen Austra, verschiebt den Fokus. „Future Politics“ befasste sich vor drei Jahren mit jenen Machtgefügen, welche das gesellschaftliche Leben entscheidend bestimmen. Nun richtet sich der Fokus nach innen mit so breitgefächerten Themen wie den Nachwirkungen einer toxischen Beziehung, Queer-Shame und Unsicherheit. Stelmanis verließ ihre Komfortzone in vielerlei Hinsicht, arbeitete mit ihr zuvor unbekannten Improv-Musikern sowie erstmals mit externen Produzenten zusammen. Entsprechend aufwühlend, vielschichtig und mitreißend gestaltet sich „HiRUDiN“.
Die Verzweiflung von „Risk It“ macht sich auf Raten breit, denn zunächst klingt die Mischung aus Synths, Wind-Instrumenten und entschleunigtem Drum’n’Bass-Beat durchaus frühlingshaft. Im hochgepitchten Refrain kommt jedoch die Angst, eine Beziehung zu verlassen, durch, und berührt. Der lockere Bounce von „Mountain Baby“ kommt ebenfalls nicht von ungefähr. Gemeinsam mit Cecile Believe und einem Kinderchor tänzelt sich Austra durch eine avantgardistische Annäherung an britische Urban-Dance-Sounds der späten 90er und frühen Nullerjahre, bloß komplett auf den Kopf gestellt.
Mit Erwartbarkeit haben diese neun Songs und zwei Zwischenspiele („i“ und „ii“, daher auch der stilisierte Albumtitel) nichts zu tun, selbst für Austra’sche Verhältnisse. Und doch ragen zwei hitverdächtige Tracks heraus. Der Opener „Anywayz“ wirkt unnahbar, gerade in den höheren Passagen, doch sobald der lockere, futuristische Beat einsetzt, wandeln sich Klassik-Ansätze in tanzbaren Art-Pop. Mindestens so großartig: „I Am Not Waiting“, dessen Fragilität sich im Chorus mit pumpenden, sehnsüchtigen Trance-Ansätzen konfrontiert sieht und die Bühne für Club-taugliche Remixe freimacht.
Der Albumtitel stammt übrigens von einem Peptid, welches Blutegel beim Blutkonsum freisetzen. Besagtes Hirudin ist der beste Gerinnungshemmer der Welt und schickt sich zugleich an, die seelischen Wunden der Protagonistin zu lindern. Das neue Umfeld bekommt Austra hörbar gut, macht die Songs noch frischer, lebhafter und vielschichtiger. Vertraut kauzige Pop-Ansätze strahlen noch befremdlicher und kunstvoller, die Gefühlswelt wird endgültig auf den Kopf gesteht. Katie Stelmanis wagt den sicherlich schweren Blick nach innen und zaubert daraus eine weitere großartige Platte.
Wertung: 4/5
Erhältlich ab: 01.05.2020
Erhältlich über: Domino Records (GoodToGo)
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