Cold Reading – ZYT
Auch wenn es immer weiter in den Hintergrund zu rücken scheint, hat das klassische Konzeptalbum im Streaming-Zeitalter weiterhin seine Daseinsberechtigung. Wie es geht, zeigen aktuell Cold Reading aus Luzern. Die fünf Schweizer brechen das Format komplett auf und dritteln es. Der erste Abschnitt – „Past Perfect“ – erschien digital bereits vergangenen Mai, der zweite Teil „Present Tense“ kam im September. Nun gibt es alles, gemeinsam mit dem großen Finale „Future Continous“ (erst in der Vorwoche präsentiert), auf einer großen Platte. „ZYT“ widmet sich nicht nur einer spannenden Geschichte über einen Ausgestoßenen, sondern zeichnet zudem die packende musikalische Entwicklung der Luzerner nach.
Die ersten vier Songs nehmen die Emo- und Post-Hardcore-Vergangenheit der Band mit, ohne jedoch in die Nostalgie-Falle zu tappen. Das kann durchaus gefährlich sein, entsprechend gestalten sich auch die Tracks. Ein „Through The Woods Pt. 1“ bringt eine gewisse Ungemütlichkeit aufs Tableau, bleibt dabei jedoch hymnisch und mitreißend. Es brodelt unter der Oberfläche, vom stellenweise scharfkantigen „Past Perfect“ und dem emotional aufgeladenen „Mono No Aware“, dessen späte Explosion von den Sitzen reißt, wunderbar auf den Punkt gebracht. Schließlich leitet das sechsminütige „Escape Plan Blueprint / New Domain“ den Aufbruch etablierter musikalischer Strukturen in die Wege. Ausladendes Arrangement, pointierte Zäsuren und das breite Spektrum von schmerzenden Schreien bis zum bewussten Fortschreiten in neue Welten landen einen Volltreffer.
Im zweiten Kapitel wird das Hier und Jetzt hinterfragt. Loops, Samples und Synthesizer gesellen sich hinzu, die Distortion nimmt ab. Das gibt „Stay Here Stay Now“ einen leicht flirrenden Indie-Beigeschmack, ohne die musikalische DNA des Quintetts komplett zu verleugnen. Und doch scheinen die „alten“ Cold Reading nach und nach zu verschwinden, wenn „Through The Woods Pt. 2“ seelige Hymnen anstimmt oder „Present Tense“ gefühlvollen Art Rock mit atmosphärisch veranlagtem Balladen-Konzepten vermengt. In „A Quiet Thought“ macht sich hingegen etwas Unruhe breit. Die lauten Gitarren kommen zurück, wenngleich etwas geordneter und beinahe in modernen Prog-Gefilden verankert.
Post Rock und Electronica begleiten die abschließenden Zukunftsvisionen. Cold Reading schlagen ein neues musikalisches Kapitel auf, das mit „Oh Sweet Hereafter“ erst einmal verblüfft. Ja, hinter den ausladenden Klangbögen verstecken sich tatsächlich noch die Schweizer von vor acht Songs. Ihr „Future Continuous“ nimmt die frühere Unruhe für wenige Momente mit. Allerdings benötigen die Instrumente mehr Platz zum Atmen und zur Entfaltung, gerade das luftige und dennoch druckvolle Schlagzeug. „Tree Diagram“ offenbart so manchen Wohlfühlmoment, widmet sich der feinen Klinge und angenehm warmen Tönen, bevor „Through The Woods Pt. 3“ das Licht ausmacht. Spannende rhythmische Entwürfe, kleine (Gitarren-)Fanfaren und die freie Positionierung im Klangraum legen ungeahnte Schönheit offen.
Überambitioniert? Blödsinn! „ZYT“ erweist sich als musikalische Schatzkammer, obwohl sämtliche Songs bereits vorab veröffentlicht wurden. Wie sich Cold Reading nach und nach häuten (oder schälen, wenn man die definitiv zwiebelbedingte Rührung aufs Tableau bringen möchte), ringt großen Respekt ab und begeistert zugleich. Die Schweizer hätten problemlos ‚bloß‘ eine weitere Emo-Platte schreiben können, so kraftvoll gestaltet sich das erste Kapitel. Danach zerlegen sie sich selbst und ihre Musik in sämtliche Einzelteile und bauen diese neu zusammen. Das reißt mit, offenbart atemberaubende Schönheit und unheimlich kraftvolle Spielintelligenz. Für dieses Kunstwerk lohnt sich das Vinyl-Format doppelt und dreifach – was für ein beeindruckender Überflieger.
Wertung: 4,5/5
Erhältlich ab: 31.01.2020
Erhältlich über: Krod Records (Code 7)
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