Sights & Sounds – No Virtue
Es ist mittlerweile ein seltenes Glück, neue Musik von Sights & Sounds genießen zu dürfen. Frontmann Andrew Neufeld ist vornehmlich mit den Hardcore-Punk-Veteranen Comeback Kid beschäftigt, entsprechend liegt die letzte EP bereits über sechs Jahre, das Debütalbum sogar ein ganzes Jahrzehnt zurück. Das gemeinsame Nebenprojekt mit Bruder Joel am Schlagzeug, Matt Howes am Bass und Dave Grabowski an den Tasten- und Effektgeräten setzt bewusste musikalische Gegenentwürfe und sorgt zudem dafür, dass keine zwei Releases gleich klingen. Auch „No Virtue“, das ersehnte zweite Album, schlägt neue Töne an.
Jegliche Erinnerungen an die Hauptband sind nun endgültig verschwunden, einzig die angedeuteten Schreie mitten in „Black Mamba“ schaffen dezente Parallelen. Und doch könnten sich diese viereinhalb Minuten kaum krasser vom Comeback-Kid-Sound unterscheiden. Beateske Düsternis, weit offene Klangräume, ein Hauch von Elektronik mit brodelndem Industrial-Charme und doch dieser Hauch von Rock – sperrig, aber begeisternd. Ein „WWR“ kehrt die Unruhe in Ruhe um und flirtet heftig mit balladesken Klängen. Breitband-Hall-Effekte, ein angerissenes Classic-Rock-Gitarrensolo und himmlische Harmonien verwirren und verzücken gleichermaßen.
Druckvoller, eingängiger Alternative Rock bildet allerdings das Rückgrat des Albums. Während der eröffnende Titelsong „No Virtue“ gen Aufbruchsstimmung driftet, legt „Resurface“ den Schalter um und brennt sich binnen Sekunden ein. Was anfangs wie mehrere zusammengekleisterte Fragmente wirkt, fügt sich schnell zu einem leichtfüßigen, druckvollen Rocker mit hymnischem Charakter zusammen. In „Ride“ wird es dann lauter mit jenem Sound, der im besten Sinne an US-Radio-Rock um den Jahrtausendwechsel erinnert. Aber auch weitere schräge Experimente, wie der verträumt-elektronische Exkurs „Caught Up“ mit Nicole Dollanganger oder das an spätere Linkin Park erinnernde „Takes And Takes“, brennen sich ein.
„No Virtue“ will erobert und analysiert werden. Einige Songs muten zunächst sperrig an, ergeben allerdings im Fluss dieses zweiten Albums absolut Sinn. Die geschickt alternierenden Höhen und Tiefen, rasiermesserscharf zwischen hymnischer Leidenschaft, bratenden Gitarren und synthesischer Sinnsuche platziert, lassen keinerlei Tristesse aufkommen und etablieren Andrew Neufeld erneut als starken Songwriter, von einer ebenfalls patenten Band begleitet. Sights & Sounds erfinden sich abermals neu durch diese Häutung. Man wünscht sich, sie würden sich häufiger dazu hinreißen lassen.
Wertung: 4/5
Erhältlich ab: 11.10.2019
Erhältlich über: Munich Warehouse (Cargo Records)
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