Tocotronic – Wie wir leben wollen
Nach dem Abschluss der Berlin-Trilogie in Form von „Schall & Wahn“ war für Tocotronic die Zeit gekommen, ein neues Kapitel in der illustren Bandgeschichte – man begeht aktuell das 20jährige Jubiläum – aufzuschlagen. Erneut arbeitete man mit Produzent Moses Schneider auf analogem Equipment und entdeckte eine alte Vier-Spur-Maschine, wie sie einst in den legendären Abbey Road Studios verwendet wurde. Passend dazu beschäftigte sich Schneider im Vorfeld der Aufnahmen mit dem Buch „Recording The Beatles“, in dem die Aufnahmetricks der Sound-Engineers enthüllt wurden. Freilich klingt „Wie wir leben wollen“ nicht nach den Beatles, wohl aber nach einer unverschämt hypnotisierenden Mischung aus Dream-Pop, Shoegaze und einer Prise Psychedelica.
„Hey, ich bin jetzt alt / Hey, bald bin ich kalt“ – „Im Keller“ eröffnet das Album mit einem gefühlten Abschluss, umgarnt von Beat-Pop und Sonnenlicht, etwas fleckig und angenehm selbstverliebt. Ob die Zeile „Denn die Revolution werde zuletzt den Tod abschaffen“ in übernächsten Track „Abschaffen“ zufällig an dieser Stelle steht – wer weiß das bei Tocotronic und Dirk von Lowtzows metaphern- und zitatreicher Sprache schon so genau? Dazwischen versteckt sich die beschwingte erste Single „Auf dem Pfad der Dämmerung“, mit großzügig eingesetzten Hall-, Delay- und Echo-Effekten belegt, die für dieses neue Album typisch sind. Man begegnet dem Teufel – will man leben, muss man zunächst den Tod überwinden – und nimmt Erdbeergeruch wahr, während von Lowtzow immer wieder wie Morrissey knödelt.
Was nach drei Songs auf musikalischer und inhaltlicher Ebene, nun ja, sehr viel ist, wird auf Albumlänge intensiviert. 17 Songs, knapp 69 Minuten Spielzeit – Tocotronic nähern sich der Grenze des Verarbeitbaren und erklären die Konzentrationsfähigkeit des Menschen zum Objekt der Kunst. Nicht jeder Song funktioniert, man pickt sich die Zuckerl schließlich raus. Dazu zählt unter anderem „Exil“, ein sympathischer Brit-Rocker mit 60s-Einschlag. In „Höllenfahrt am Nachmittag“ geben Tocotronic endlich ein wenig Gas, gestikulieren angenehm hektisch, grüßen die Smiths. „Neutrum“ verwirrt. Im witzigen Retro-Pop-Outfit setzt es einen typischen, obskuren Tocotronic-Text, der wie dafür gemacht ist, Rätsel aufzugeben; so etwas wie das „Bitte oszillieren Sie“ dieser Platte.
Am besten sind die Jubilare zur Album-Mitte, eingeleitet durch das himmlische „Vulgäre Verse“. Zu einer hübschen, schwelgenden Melodie mimt von Lowtzow die alternde Diva, die stellvertretend für Vergänglichkeit und das Verblassen von Ruhm steht. „Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools“ hat neben einem herrlich bizarren Songtitel sympathisch unaufdringlichen Shoegaze zu bieten, gewissermaßen introvertiert und doch so ausufernd angelegt. „In der Strömung stellen wir uns vor / Eine Krönung aus Glanz und Chlor“, das passt gewissermaßen. Ebenfalls nicht zu verachten: „Warm und grau“, ein zunächst blindes Stolpern durch die Echokammer, bevor das große Finale in den wohl kratzigsten Gitarren dieser Platte zu versinken droht – großes Kino, intensiv und doch magisch verklärt.
Ist „Wie wir leben wollen“ zu lang, zu ausufernd geworden? Vielleicht, die 17 Songs gehen an die Substanz, auch wenn zumindest musikalisch über weite Strecken einfühlsames Understatement das Tempo vorgibt. Wirkliches Füllmaterial gibt es nicht, kein Song stört, wäre überflüssig, obwohl sich die letzten drei Nummern ein wenig ziehen. Auf der anderen Seite stimmt man, gerade zur bereits positiv hervorgehobenen Album-Mitte, fantastische, gar hypnotisierende Lieder an, die vielleicht nicht sofort wirken, erst nach mehreren Durchläufen ihre volle Strahlkraft entfalten, dafür aber das Potential haben, sich zu so etwas wie Evergreens zu entwickeln. „Wie wir leben wollen“ glänzt mit einem schlichten aber effektiven musikalischen Bruch und jener dichten, magischen Produktion, wie sie wohl nur in dieser Analog-Retro-Kombination funktionieren kann. Happy birthday, indeed.
Wie wir leben wollen
VÖ: 25.01.2013
Vertigo Berlin (Universal Music)
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