Blue October – Any Man In America

Blue October

Auch wenn Blue October mit ihrem letzten Album „Approaching Normal“ endlich einen Fuß in die europäische Rock-Tür bekamen, haben zuletzt Schlagzeilen über das turbulente Privatleben von Frontmann Justin Furstenfeld das musikalische Geschehen überschattet. Nach einem Zwischenfall an einem Flughafen wurde bei ihm eine manisch-depressive Erkrankung diagnostiziert. Obendrein hatte ihn seine Ex-Frau auf Tour hintergangen, woraufhin ein langer, erbitterter Streit um das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter folgte. All diese Lasten und Täler haben Furstenfeld und Band auf „Any Man In America“ vertont, das mit einigen musikalischen Überraschungen aufwartet.

Justin Furstenfeld nennt das Album ein ‚Audiojournal‘, in dem er das Geschehene schrittweise verarbeitet und sich dabei kein Blatt vor den Mund nimmt, wohl wissend, dass er sich damit weitere Probleme schaffen kann. Detailliert geht er auf seinen Zusammenbruch und den langen Sorgerechtsstreit ein, thematisiert die Hilflosigkeit, die er als Vater gefühlt hat, und greift dabei zu neuen Stilmitteln: Rap. Gerade das Herzstück des Albums, „The Flight (Lincoln To Minneapolis)“, wird selbst hartgesottene Blue October-Fans vor eine große Herausforderung stellen, wenn sich Furstenfeld zu Beats in Bandbesetzung an Sprechgesang mit zahlreichen Flüchen – ein Motiv, dass sich durch das gesamte Album zieht – versucht und dabei erzählt, wie er jenen Zwischenfall, das Vor- und Nachspiel erlebt hat.

Bis man dorthin kommt, ist es jedoch ein weiter Weg, gesäumt von den größten Hits dieses Albums. „The Feel Again (Stay)“ ist eine fragile Halb-Ballade über die verflossene Liebe mit Coldplay-Elementen und dezenten U2-Referenzen. Hinter „The Money Tree“ vermutet man dank Loops und Raps zunächst einen Fall Out Boy-Remix, bevor der Track mit folkigen Arcade Fire-Einflüssen regelrecht abhebt. Die treibende, rockige Single „The Chills“ wirkt – rein musikalisch – wie eine wehmütige Referenz an die Vergangenheit, ein scheinbarer Befreiungsschlag, geprägt von Weltschmerz und der großen Sinnfrage. Schließlich kommt Justin Furstenfeld – erneut rappend – dass sein Schicksal jedem Mann in Amerika („Any Man In America“) widerfahren könne.

Erst mit der streicherlastigen Abrechnung „You Waited Too Long“ und dem finalen Hoffnungsschimmer „The Follow Through – inklusive The Cure-Gitarren und der begnadeten Patricia Lynn von The Soldier Thread mit der Schlüsselzeile ‚Let me help you live on‘ – finden Blue October wieder zurück auf Kurs. Ob man „Any Man In America“ jedoch als musikalisches Erlebnis oder ‚Audiojournal‘ betrachten soll, bleibt einem jedem selbst überlassen. Auf der Klangebene gibt es große Herausforderungen, eine Sammlung an Flüchen, teils verstörende HipHop-Klänge und einen deutlich geschrumpften Rock-Anteil. Auf der thematischen Ebene jedoch hält Justin Furstenfeld die Spannung hoch und therapiert sich selbst. „Any Man In America“ funktioniert im Prinzip nur über den Inhalt und in seiner Gesamtheit, wird die Fans fordern und mit ein wenig Glück ein finsteres Kapitel im Leben des Blue October-Frontmannes zumindest abzuarbeiten beginnen. Ob er sich mit diesem schwierigen, ambitionierten und durchaus faszinierendem Album selbst nicht noch in weitere Schwierigkeiten stürzt, bleibt abzuwarten.

VÖ: 26.08.2011
earMUSIC (Edel Music Distribution)

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