Tokio Hotel – Humanoid
Was für eine Erfolgsgeschichte. Als Tokio Hotel im Sommer 2005 mit „Durch den Monsun“ die Musikbühne betraten und in den folgenden Monaten unter deutschen Teenagern einen Hype auslösten, wie es ihn seit langer Zeit nicht mehr gegeben hatte (der „Spiegel“ wagte sogar den Vergleich mit den Beatles), war es fast einhellige Meinung – nicht nur unter den äußerst zahlreichen Tokio Hotel-Hassern – dass diese vier Jungs spätestens nach zwei oder drei Jahren wieder von der Bildfläche verschwunden sein würden. Von wegen.
Wir schreiben das Jahr 2009, und Tokio Hotel sind immer noch da. Nicht nur das, sie haben in der Zwischenzeit nahezu ganz Europa und Südamerika erobert. Selbst in den USA konnten sie eine beträchtliche Fanbasis aufbauen und gewannen dort als erste deutsche Band überhaupt einen MTV Video Music Award. Bei all dem Erfolg im Ausland und Terminen rund um die Welt vernachlässigten die vier Magdeburger allerdings ein wenig ihre Heimat, und so wurde es hierzulande in letzter Zeit doch verhältnismäßig still um die Band – abgesehen von ein paar Bild-Schlagzeilen über stalkende Fans und Disco-Schlägereien. Seit dem letzten Album vergingen fast drei Jahre, jetzt aber steht das neue Werk in den Regalen.
„Humanoid“ heißt es und wurde – um die Fans aller Nationen zufrieden zu stellen – parallel auf Deutsch und Englisch veröffentlicht. Erstmals haben sie darauf auch mit international renommierten Produzenten und Songwritern zusammen gearbeitet. So halfen unter anderem Guy Chambers (Robbie Williams) und The Matrix (Avril Lavigne) an einigen Songs mit – zumindest auf der englischen Version. Selbst KoRn-Frontmann Jonathan Davis steuerte einen Song bei – dieser ist jedoch nur auf der Special Edition zu finden. Der Großteil des Albums stammt allerdings vom bewährten Team, das auch schon für die ersten beiden Alben verantwortlich war. Dennoch ist auf „Humanoid“ eine klare Weiterentwicklung zu erkennen.
Die Songs klingen deutlich erwachsener als bisher, immerhin sind alle Bandmitglieder inzwischen auch Anfang 20. Die jugendliche Leichtigkeit, wie sie zum Teil auf „Schrei“ noch durchschimmerte, ist einer gewissen emotionalen Schwere gewichen. Lieder voller Weltschmerz und Sehnsucht wie „Lass uns laufen“ und der krachende Titeltrack prägen das Album. Auch klangtechnisch hat sich einiges getan: Die Produktion klingt ausgereifter und der Sound ist zum Teil deutlich elektronischer geworden, wie bei „Kampf der Liebe“, dessen Intro wie eine Mischung aus „Carmina Burana“ und Depeche Mode klingt. Auf die Spitze – vielleicht schon zu weit? – getrieben wird dies bei „Hunde“, das dank Produzent Cherry Cherry Boom Boom (u.a. Lady Gaga) schon in Richtung Elektro-Pop geht und vor lauter Synthies den alten Tokio-Hotel-Sound kaum noch erkennen lässt.
Vor allem die erste Hälfte des Albums hält so einige Ohrwurmkandidaten bereit – neben den bereits genannten und der ersten Single „Automatisch“ mit ihren hymnenartigen Gitarren vor allem „Sonnensystem“, das nur in den ersten Sekunden ein wenig an „Allein allein“ von Polarkreis 18 erinnert (Wem der Text hier oder auch bei anderen Nummern etwas befremdlich vorkommt, dem sei an dieser Stelle die englische Version des Albums ans Herz gelegt.).
Mit „Humanoid“ ist Tokio Hotel jedenfalls ein eindrucksvoller Schritt weg von einer (weitestgehend verhassten) Teenie-Kapelle hin zu einer ernst zu nehmenden Band gelungen. Bleibt nur noch abzuwarten, ob das Publikum dies auch entsprechend honoriert. Verdient wäre es jedenfalls.
VÖ: 02.10.2009
Vertigo Berlin (Universal Music)
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