Unheilig – An deiner Seite

Grausam zerfrisst der Schmerz nach und nach jede Zelle meiner Seele. Fast kann ich spüren, wie jeden Tag ein Teil von mir mit ihm zu sterben scheint. Ihn da liegen zu sehen, schwer gezeichnet von einem aussichtslosen Kampf, das hinterlässt tiefe Narben in mir, immer und immer wieder, mit jedem einzelnen Blick. Das Allerschlimmste daran ist, dass ich nichts tun kann. Klar, Ich bin hier, jeden Tag, aber hey, ganz ehrlich, was bedeutet das denn schon wirklich? Ich sehe ihn da liegen, ausgebrannt und zerfurcht, angeschlossen an blinkende Apparate, die mir das Unvermeidliche jeden Tag aufs Neue weiter hinauszögern.

Bleib still liegen mein Herz, erschreck dich nicht. Ich bin ein Freund, der zu dir spricht. Ich hab gewartet und gehofft, dass der Moment vielleicht niemals kommt, dass er einfach vorüber geht oder vielleicht niemals geschieht.

Niemals habe ich mir mehr gewünscht, dass ich Superkräfte hätte. Was sonst kann man sich wünschen, wenn alle anderen Wunder verbraucht sind? Ich möchte Kräfte, mit deren Hilfe ich all die Trauer, die Wut und den verlorenen, von Anfang an ungleichen Kampf einfach vergessen machen kann. Mit denen ich all dein Unheil aus deiner Seele herausholen könnte und es irgendwo in das schwarze Nichts des Weltalls schleudern könnte. Doch leider bin ich kein Superheld. Ich bin nicht mehr als ein schwacher, unbedeutender Mensch.

Ich schau zurück auf eine wunderschöne Zeit, warst die Zuflucht und die Wiege meines Seins. Hast gekämpft und jeden Moment mit mir geteilt – ich bin stolz, auch jetzt bei dir zu sein.

Ich schließe die Augen und vor mir fügt sich träge eine Erinnerung zusammen. Ein wenig verschwommen sehe ich uns, wie wir als Kinder stundenlang nachts in den Himmel schauten, immer auf der Suche nach Sternschnuppen oder zerstörerischen Alien-Raumschiffen. Leider haben wir nicht einmal eines von beiden gesehen. Mit Blick auf diese schimmernde, unendliche Pracht am Firmament erscheinen die Probleme unseres Lebens so belanglos und nichtig. Ich wünschte, sie wären es. Bald, mein Freund, wirst du auch dort oben herumgeistern, wirst die Sterne bereisen und die Grenzen des Universums erkunden. Und ich bleibe hier zurück.

Du kamst zu mir, vor jedem allerersten Ton, als das Zeitglas unerschöpflich schien. Du hast gelebt, in jedem Sturm mit mir gekämpft, nie etwas verlangt, nur gegeben und geschenkt. Hast mir gezeigt, was wirklich wichtig ist, hast mir ein Lächeln gezaubert mit deinem stillen Blick. Ohne jedes Wort, doch voll von Liebe und Leben hast so viel von dir an mich gegeben.

Mein Gott, was bin ich nur für eine armselige Kreatur, ein schlechter Freund vor dem Herrn. Ich weine hemmungslos während ich da neben dir sitze. Es bricht einfach aus mir heraus und schäme mich für meine Schwäche, weil ich es vor deinen Augen tue. Ich sollte dir Mut geben, alles Erdenkliche in Bewegung setzen – aber ich spüre, dass du längst weißt, wie die Dinge liegen. Dein sanfter Blick ist so voller Wärme, er gibt mir Mut, tröstet mich. Fast muss ich lachen, so paradox erscheint es mir.

Ich fang ein Bild von dir und schließ die Augen zu. Dann sind die Räume nicht mehr leer, lass alles andere einfach ruhen. Ich fang ein Bild von dir und dieser eine Augenblick bleibt mein gedanklicher Besitz, den kriegt der Himmel nicht zurück.

Du bist schon seit Stunden wieder eingeschlafen und ich sitze immer noch hier in diesem kargen Raum und frage mich, wie viel Leid und Verzweiflung diese hellgrünen Kalkwände wohl schon gesehen haben. Die Zeit mit dir vergeht wie im Flug. Und doch erscheint sie so schmerzhaft lang, aber ich will keinen Augenblick missen. Inzwischen ist es Nacht geworden, die Sterne schimmern durch das Fenster und verleihen deinem Gesicht einen unwirklichen Schimmer. Wie jeden Abend habe ich mich von dir verabschiedet, wie ein Zurückgelassener von einem Reisenden, ein sarkastisch anmutendes letztes Ritual zwischen zwei Seelenverwandten. Diesmal habe ich dir auch mein Lied vorgespielt, genauer gesagt ist es dein Lied. Es erinnert mich an dich, ist mein Zubrot für deine lange Reise. Mein persönliches Geschenk an dich, vielleicht das Einzige, was ich dir noch geben kann. Ich stehe auf, wische mir die Tränen aus dem Gesicht, sehe dich ein letztes Mal an. Ich öffne die Tür, drehe mich in der Schwelle noch ein letztes Mal um. Mach’s gut, alter Freund und pass auf dich auf. Du fehlst mir jetzt schon.

Ich lass dich gehen und wünsch dir alles Glück der Welt. In diesem Augenblick bist du das Einzige, was zählt. Lass dich fallen und schlaf ganz einfach ein. Ich werde für immer an deiner Seite sein.

Wertung: 5/5
VÖ: 14.11.2008 (Re-Release)
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